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Vorbild 2006: Kann die Heim-EM die Stimmung in Deutschland heben?

Sommer, Sonne. Deutschland überrascht sich selbst als hervorragende Gastgeber, und die Welt staunt. «Die Welt zu Gast bei Freunden» ist nicht nur Motto, sondern wird gelebt. Dazu eine deutsche Nationalmannschaft, die sympathisch ist, mit der sich die Menschen leicht identifizieren können – und die vor allem erfolgreich ist.

Plötzlich sind die deutschen Farben und Fahnen nicht nur omnipräsent, sondern gehören dazu zu einer neuen Art des Gemeinschaftsgefühls. Medien und Politik jubeln über und befeuern den ihrer Meinung nach positiven und unverkrampften Patriotismus. «Ich finde gut, dass ich nicht mehr der Einzige bin mit einer Flagge am Auto», sagte der damalige Bundespräsident Horst Köhler. Die WM 2006 im Rückblick – eine Befreiung, ein vierwöchiges Fest voller Leichtigkeit. Kurz: ein Sommermärchen.

«Wir haben uns als Land hervorragend präsentiert»

Auch 18 Jahre nach der WM in Deutschland sind jene Tage im Juni und Juli bei vielen Beteiligten und Fans noch in lebhafter und angenehmer Erinnerung. «Wir haben uns als Land hervorragend präsentiert», sagte der langjährige DFB-Direktor und Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff (56) der Deutschen Presse-Agentur bei der Digital- und Marketingmesse OMR in Hamburg.

Tausende Zuschauer verfolgen auf der Fanmeile am Brandenburger Tor in Berlin das WM-Fußballspiel zwischen Deutschland und Argentinien. Archivfoto: Marcel Mettelsiefen/dpa

Tausende Zuschauer verfolgen auf der Fanmeile am Brandenburger Tor in Berlin das WM-Fußballspiel zwischen Deutschland und Argentinien. Archivfoto: Marcel Mettelsiefen/dpa

Und dies nicht nur, weil dem DFB-Team mit Platz drei sportlich mehr gelang, als viele erwartet hatten. Selbst als neun Jahre später die Affäre um eine dubiose Millionen-Zahlung aufkam, bei der Stimmenkauf für die WM-Vergabe vermutet wurde, konnte dies die Erinnerungsbilder aus den Stadien und den Fan-Meilen kaum trüben.

«EM kommt in einer schwierigen Phase, aber zur richtigen Zeit»

Die Weltmeisterschaft von damals ist die Messlatte für die EM 2024. Diese zu erreichen, wird schwer. Wichtigste Voraussetzung: die Nationalmannschaft von Bundestrainer Julian Nagelsmann muss ähnlich erfolgreich sein und sympathisch auftreten wie die von 2006.

Die WM war die größte Veranstaltung seit der deutschen Vereinigung. Und sie fand im Vergleich zur Gegenwart in ruhigeren Zeiten statt. Heute gibt es mehrere geopolitische Krisen mit zwei großen Kriegen. Die Folgen der Corona-Pandemie sind noch spürbar. Die Klimakatastrophe ist Dauerthema. Innenpolitisch wird die Demokratie bedroht, die Gesellschaft ist gespalten, die Schere zwischen Arm und Reich klafft weit auseinander. Die Wirtschaft in Deutschland stagniert.

«Das Turnier ist keine Weltmeisterschaft, aber eine Europameisterschaft. Es kommt in einer schwierigen Phase, aber zur richtigen Zeit», ist Per Mertesacker überzeugt. Als 21-Jähriger spielte er unter Bundestrainer Jürgen Klinsmann 2006 sein erstes WM-Turnier und hat noch gute Erinnerungen an die Zeit vor 18 Jahren.

«Man war immer so gefangen und hat sich gefragt: Schaffen wir das auch? Man hat erst im Turnierverlauf gemerkt, was das für einen Ruck gibt für Deutschland», sagte der heutige Leiter der Nachwuchsakademie des Premier-League-Clubs FC Arsenal in London und ZDF-Experte bei der EM. Vorher habe man sich nicht ausmalen mögen, wozu das Land imstande sei.

Lahms Wunsch: Zeitenwende für Fußball und Gesellschaft

Genau so einen Effekt wünscht sich EM-Turnierdirektor Philipp Lahm (40) auch in diesem Sommer. In einem Gastbeitrag für den «Kicker» schrieb der erste deutsche Torschütze bei der WM 2006 von einer «Zeitenwende im deutschen Fußball. Und in der Gesellschaft».

Mit Blick auf das Eröffnungsspiel am 14. Juni solle die EM als «Wendepunkt» begriffen werden: «für Europa, für die Gesellschaft, für uns alle». Dieses Turnier sei ein Aufruf für Solidarität und Fürsorge sowie für ein Wiedererstarken des europäischen Gedankens, «um künftig besser den Krisen und Konflikten trotzen zu können».

Alles andere als ein bescheidener Anspruch für ein Sportereignis mitten in krisenhaften Zeiten. Dabei scheint nur wenig PR-Unterstützung aus der Berliner Politik für die EM zu kommen. Und auch sonst ist von EM-Stimmung lange nur wenig im Land zu spüren. «Die EM findet noch nicht richtig statt», sagte 1996-Europameister Bierhoff. «Aber ich glaube, wenn das Turnier einmal beginnt, wenn man gute Spiele sieht, wenn die Siege kommen, dann wird auch die Begeisterung der Menschen da sein.»

Kein zweites Sommermärchen?

«Ein bisschen Entlastung durch ein Fußball-Großevent wird dringend gebraucht», sagte Sozialpsychologin Dagmar Schediwy. Und doch hofft die Berliner Wissenschaftlerin auf kein zweites Sommermärchen.

Schediwy hatte bei der WM 2006, der EM 2008 und der WM 2010 Deutschlandfans auf Fanmeilen befragt und 2012 ihre Ergebnisse im Buch «Ganz entspannt in Schwarz-Rot-Gold?» veröffentlicht. Ihr Fazit zur WM 2006: «Die Fußball-WM 2006 hatte den Charakter eines nationalen Coming-out.»

Ihrer Meinung nach «hat die WM 2006 zu einer Normalisierung nationalistischer und geschichtsrevisionistischer Einstellungen geführt», sagte sie der dpa. «Das hat letztlich auch zum Aufstieg rechter Parteien und Bewegungen geführt, zumindest den Weg geebnet.»

Anders als bei der WM 2006 würden heute nicht nur Fußball-Fans mit schwarz-rot-goldenen Fahnen durch die Straßen laufen, sondern auch rechte Bewegungen und Parteien. «Da sind bei der EM 2024 vielleicht anders als 2006 Appelle, sein Nationalgefühl unverkrampft auszudrücken, nicht mehr so angebracht.»

Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) habe da «gute Vorarbeit geleistet mit diesen rosa und lilafarbenen Trikots», meinte Schediwy. «Mit diesen Trikots kann sich ein richtiger Deutsch-Nationaler wohl nicht identifizieren.» Quelle: dpa


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